Unser Strafbefehlsprojekt
Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V. initiierte im Frühjahr 2019 gemeinsam mit der Law Clinic – Praxis der Strafverteidigung der Freien Universität Berlin ein Rechtsberatungsprojekt für Empfänger*innen von Strafbefehlen. Ziel des Projekts ist es, ein leicht zugängliches und gleichzeitig parteiisches Beratungsangebot bereitzustellen. Gleichzeitig dient es als Ausbildungsprojekt, um Studierende in anwaltlichem Denken und Handeln zu schulen.
Hintergrund dieses ambitionierten Projektes ist folgender:
Das Strafbefehlsverfahren, das in der Praxis eine erhebliche zahlenmäßige Bedeutung hat, stellt aus Sicht der Justiz eine äußerst effiziente Möglichkeit dar, Verfahren abzuschließen und zahlreiche Urteile zu erlassen, ohne die knappen Ressourcen der Justiz wie Gerichtssäle, Wachpersonal, Richterinnen, Staatsanwältinnen, Protokollkräfte und Zeug*innen der Polizei zu belasten.
Dieser Effizienz der Strafverfolgung steht jedoch der Anspruch des Einzelnen auf rechtliches Gehör gegenüber. Strafbefehle sind Abwesenheitsurteile, die – außer im Fall eigenmächtiger Verhandlungsvermeidung durch die Betroffenen – normalerweise unzulässig wären. Sie stellen eine direkte Umsetzung polizeilicher Ermittlungen in eine von der Staatsanwaltschaft verfasste strafrechtliche Sanktion dar und sind einem Urteil nach einem regulären Strafverfahren gleichgestellt.
Strafbefehle sollen die gleiche Appellfunktion erfüllen wie Urteile, haben jedoch weitreichende Konsequenzen: Die verhängten Strafen werden im Bundeszentralregister eingetragen und können existenzgefährdend wirken. So erscheinen sie im polizeilichen Führungszeugnis, was berufliche Existenzen vernichten kann. Beispielsweise müssen DHL-Fahrerinnen alle sechs Monate ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, und Lehrerinnen droht bei bestimmten Vergehen – wie etwa dem einmaligen Erwerb geringer Mengen Cannabis – ein Berufsverbot gemäß § 25 Jugendarbeitsschutzgesetz.
Seltene Einsprüche
Die Gründe, warum viele Strafbefehlsempfänger*innen keinen Einspruch einlegen, sind bislang unbekannt, da es weder Befragungen noch belastbare Erhebungen oder Statistiken dazu gibt. Gespräche mit der für die Vollstreckung zuständigen Staatsanwaltschaft deuten jedoch darauf hin, dass intellektuelle und sprachliche Barrieren eine Rolle spielen könnten. Dies zeigt sich insbesondere bei der Zwangsvollstreckung ins Vermögen: Wenn Betroffene mündlich von Vollstreckungsbeamten über Möglichkeiten wie Ratenzahlungen oder Arbeitsleistungen belehrt werden, wird häufig ein grundlegendes Verständnisproblem deutlich. Besonders eindringlich sind Fälle, in denen eine Verhaftung zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe ansteht und den Betroffenen letztmals die Möglichkeit gegeben wird, diese durch Zahlung der Geldstrafe abzuwenden. Dabei zeigt sich oft, dass keinerlei Vorsorge getroffen wurde, etwa durch Ansparen oder die Aufnahme eines Darlehens. Manche Betroffene öffnen die zugestellte Post nicht, während andere den Inhalt des Strafbefehls nicht verstehen, weil er nicht übersetzt wurde. Sprachliche Defizite könnten theoretisch durch automatische Übersetzungen oder frühzeitiges Erkennen bei der polizeilichen Vernehmung ausgeglichen werden, jedoch bleibt dies in vielen Fällen unberücksichtigt. Hinzu kommt, dass im Strafbefehlsverfahren eine Beschuldigtenvernehmung nicht zwingend erforderlich ist. Ein weiterer Grund, warum Rechte wie Akteneinsicht, Einspruch, beschränkter Einspruch, Wiedereinsetzung, Ratenzahlung oder Arbeitsangebote nicht genutzt werden, könnte wirtschaftlicher Natur sein. Die Angst vor zusätzlichen Kosten hält viele davon ab, diese Möglichkeiten wahrzunehmen. Zudem hat der Strafbefehl in der Praxis häufig den Charakter einer Verfahrensabsprache: Betroffene akzeptieren ihn oft, um eine potenziell schwerere Sanktion in einem Hauptverfahren oder die Belastungen eines langwierigen und unsicheren Verfahrens zu vermeiden. Diese Vielzahl an Gründen führt dazu, dass Strafbefehle zwar schnelle, aber nicht immer sachgerechte Entscheidungen zur Folge haben können, die rechtskräftig werden.
Das Rechtsberatungsprojekt
Vor diesem Hintergrund hat die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V. gemeinsam mit der Law Clinic der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Carsten Momsen ein Rechtsberatungsprojekt ins Leben gerufen. Dieses wurde zunächst von den Mitgliedern der Strafverteidigervereinigung Hannes Honecker und Cäcilia Rennert betreut und startete im April 2019. Zur Umsetzung des Projekts hat die Vereinigung geeignete Räumlichkeiten in der Köpenicker Str. 175, 10997 Berlin angemietet, um den Zugang zu einer niederschwelligen und zugleich parteiischen Rechtsberatung zu ermöglichen.
Unentgeltliche Beratung
An zunächst zwei Nachmittagen pro Woche sollen Strafbefehlsempfänger*innen durch jeweils einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin in Anwesenheit von ein bis zwei Studierenden der Law Clinic unentgeltlich beraten werden. Bereits in einem ersten Gespräch kann die Verteidigung, auch ohne Akteneinsicht, über verschiedene rechtliche Möglichkeiten informieren, wie z. B. die Wiedereinsetzung bei versäumten Fristen, die Herabsetzung der Höhe des Tagessatzes bei fehlerhaften Einkommensschätzungen, Ratenzahlungen oder Arbeitsleistungen. Die Studierenden erhalten im Rahmen dieses Rechtsberatungsprojekts die Gelegenheit, sich erstmals parteilich mit Strafverteidigung auseinanderzusetzen und aktiv an den Beratungen teilzunehmen. Dabei sollen sie im anwaltlichen Denken geschult werden. Neben einem Qualitätsmanagement ist langfristig auch eine empirische Auswertung der Projektergebnisse vorgesehen. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von Prof. Dr. Carsten Momsen und seinem Team.
Das Projekt versteht sich als gemeinwohlorientiert und zielt darauf ab, eine rechtspolitische Diskussion anzustoßen. Strafbefehlsempfänger*innen sollen durch die Beratung einen Zugang zum Recht erhalten, der ihnen im schriftlichen Verfahren häufig erschwert oder sogar verwehrt wird. Nach der Beratung wird entschieden, ob – zunächst durch die Betroffenen selbst mithilfe bereitgestellter Formulare – Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt wird und ein Hauptverfahren angestrebt werden soll. Dabei müssen sowohl das fehlende Verschlechterungsverbot (die Möglichkeit, dass sich die Rechtsfolgen verschärfen) als auch mögliche Kostenfolgen bedacht werden. Bislang ist eine Verteidigung nur in Fällen mit Freiheitsstrafen verpflichtend, d. h. es erfolgt eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers oder einer Pflichtverteidigerin. Perspektivisch könnte das Projekt empirisches Material liefern, um die rechtspolitische Forderung nach einer Ausweitung der Pflichtverteidigung auf weitere Fälle zu untermauern. Ob das Projekt zu einer Zunahme von Einsprüchen und dadurch bedingten Verfahren führt, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch geeignet, allein durch Übersetzungsleistungen oder die mündliche Beratung durch eine rechtskundige Person ein besseres Verständnis der eigenen Rechte zu schaffen – etwas, das das rein schriftliche Verfahren nicht leisten kann und möglicherweise auch nicht beabsichtigt. Die Beratungseinrichtung setzt vor einer Mandatsbegründung an und klärt über die rechtlichen Möglichkeiten auf. Die Beratung erfolgt unentgeltlich, solange kein über die Beratung hinausgehendes Mandat begründet wird. Die Organisation, Einführung und Schulung der beratenden Kolleg*innen wird durch die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V. koordiniert. Sobald die Beratung in ein Mandat mündet – etwa durch einen Antrag auf Akteneinsicht oder Wiedereinsetzung – entsteht ein klassisches Mandatsverhältnis. Da sich das Projekt primär an finanziell schwächere Rechtssuchende richtet, spielt der soziale Anspruch auch in der Schulung der Beraterinnen eine zentrale Rolle. Nach Abschluss der Beratung nimmt die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V. keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung der Mandatsverhältnisse. Die beratenden Rechtsanwältinnen verpflichten sich jedoch, ein mögliches Mandat nicht unmittelbar im Anschluss an das Beratungsgespräch einzugehen.
Unterstützung durch den Vorstand der RAK Berlin
Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin unterstützt das Rechtsberatungsprojekt dankenswerterweise und hat den Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten, dem das Projekt ebenso wie der Vollstreckungsabteilung der Staatsanwaltschaft Berlin bereits in einer frühen Phase vorgestellt wurde, über seine Unterstützung informiert. Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass diese Unterstützung dazu beiträgt, dass das Präsidium des Amtsgerichts Tiergarten das Projekt weiterhin aktiv bewirbt und möglicherweise Informationen zur Rechtsberatungsstelle jedem Strafbefehl beifügt. Seit der Einführung des Projekts wurden alle Abteilungsrichterinnen, Geschäftsstellen des Amtsgerichts Tiergarten sowie die Staatsanwaltschaft und weitere relevante Stellen über das Rechtsberatungsangebot informiert. Besonders großes Interesse zeigt sich weiterhin bei den Sozialen Diensten der Justiz, da insbesondere Bewährungshelferinnen und Mitarbeiter*innen der Schuldnerberatung häufig mit dem Thema Strafbefehl konfrontiert sind.
Teilnahme am Rechtsberatungsprojekt
Die Teilnahme am Projekt steht allen in Berlin zugelassenen Rechtsanwält*innen offen. Um strafrechtliche Fachkenntnisse sicherzustellen, wird der Nachweis über zehn Stunden Fortbildung im Strafrecht gemäß FAO pro Jahr verlangt. Eine Fachanwaltschaft für Strafrecht ist jedoch nicht erforderlich. Interessierte Kolleginnen werden gebeten, sich unter Angabe ihrer Kontaktdaten an die Geschäftsstelle der Strafverteidigervereinigung unter info@strafverteidiger-berlin.de zu wenden.